Zypriotisches Tagebuch

Unser nimmermüder Flügelflitzer und Strafraumkherer Uli Hannemann hat sich die Mühe gemacht, seine Gedanken zu unserer Zypernreise in Schriftform Darzulegen. Wir danken ihm dafür und sind froh, dass neben all den Blessuren, die er im Turnierverlauf sammelte, immerhin seine Finger verschont blieben.

Von Uli Hannemann

Tag -1

Morgen früh geht es los. Ziel ist diesmal die Insel Zypern, an deren Küste einst die sagenhafte Schnalle Aphrodite an Land ging, um dort als erstes ihre Blöße hinter einem Myrthenstrauch zu verbergen. Klug gehandelt, denn Nacktbaden ist auf Zypern streng verboten, was  für unsere Mitspieler aus dem real existierenden Osten der Republik eine schwere Prüfung bedeuten wird. Von Herrn Straatmann erst gar nicht zu reden.

Kein Wunder, dass sich sage und schreibe zweiunddreißig Autorenfußballer Hals über Kopf auf den Weg machen wollen, um der schaumgeborenen Göttin der Schönheit, der Liebe und der sinnlichen Begierde ihre Aufwartung (siehe Tag 2) zu machen.

Doch vor den Lohn haben die Götter den Schweiß gesetzt. Zuerst gilt es nämlich, unter acht internationalen Teams den Writers’ Cup 2016 auszuspielen. Und werfen wir hier nur mal einen Blick auf den Plan: „T1 gegen T2“, „T3 gegen T4“ usw.. Man muss kein Schriftkundiger sein, um zu erkennen: T steht für Todeskandidat, denn jedes der Teams wird drei Tage lang je zwei Großfeldspiele à 60 Minuten absolvieren. Bei vermutlich tausend Grad im Schatten.

Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass einige von uns auf dem Platz sterben werden. In erster Linie natürlich die Älteren. Aber ist nicht gerade das natürlich: Dass die Älteren sterben und die Jüngeren leben? Bis sie selber die Älteren sind. Dann sterben sie, aber das macht nichts, denn inzwischen gibt es ja längst schon wieder neue Jüngere, die den Müll beseitigen, das Brot backen und die Staaten lenken werden. Das hat die Natur gut eingerichtet.

Deutschland wird, wegen der regen (s.o.) Beteiligung an „Der Bachelor sucht die Liebesgöttin“, mit zwei Mannschaften antreten. Autonama I wird sicher einer der Turnierfavoriten sein. Doch wir verweisen hier dringend auf den Artikel http://www.sueddeutsche.de/sport/leicester-city-triumph-der-elf-versager-1.2975354 „Straftäter, Übergewichtige, gescheiterte Existenzen“, heißt es dort mit kaum verhohlener Anspielung auf das Team Autonama II. Selten, aber manchmal eben doch, triumphiert der Underdog über den Favoriten, perforiert der Stier den Torero und schlägt unverschämte List Kraft und Talent.

Tag 0

Ich so. In der U-Bahn. Zum Flughafen. Früh wie Sau. Schön rechtzeitig, schön müde. Früher Vogel fliegt nach Wurm. Fahr, fahr, ratter, ratter, alles gut.

Im U-Bahn-Fernsehen: „Meryl Streep findet Diäten idiotisch.“ Starke Opinion. Aber finde ich ja nicht. Wenn die Politiker am Ende nur noch von Bestechungsgeldern leben, also quasi auf Provision arbeiten würden, wird ja alles noch viel schlimmer. Als es jetzt sowieso schon ist (siehe Tag 5).

Finde ich. Denke ich. Das Handgepäck ist übrigens schön leicht. Sauleicht geradezu. Und dann sackt langsam die Erkenntnis, bohrt sich wie eine eiskalte Klaue in mein banges Herzchen: Ich habe meinen Reiseklapprechner zu Hause vergessen!

Wie soll ich da mit Mutti skypen, wie dieses Tagebuch zusammenzimmern, wie überhaupt noch irgendetwas liken? Ein kurzer Blick auf die Uhr. Ich so. Nachgedacht. Also was man noch eben so denken nennen kann. Eher so ein Shitstorm im Hirn. Nächste Station raus und zurückgefahren. Also immer weiter weg von Zypern anstatt näher hin. Doof. Zuhause das Teil eingetütet und an den Taxistand. Ist ja schon spät. Was man nicht im Kopf hat, muss man im Beutel haben. Was für ein Cunt Move.

Im Flugzeug. Flüge sind etwas Komisches. Die Leute werden die ganze Zeit mit irgendeinem schweren Kram gefüttert, damit sie nicht wütend werden. Dann kacken sie, träge geworden, einer nach dem andern. Essen und Kacken. Das ist alles was man tut, bis man am Ziel ist – eine maßstabsgetreue Miniatur unseres Lebens bis zum Tod. Ankunft.

Tag 1

Heute Abend sollen die Gruppen ausgelost werden. Der Modus (siehe Tag -1) fetzt ja eigentlich ungemein: Alle acht Teams kommen ins Viertelfinale. Man kann also theoretisch alle drei Gruppenspiele zuvor mit, nur um hier mal eine annäherungsweise Hausnummer zu nennen, hundert zu null verlieren, um ausgeruht in die K.o.-Runde zu gehen. Und dann strengt man sich erst so richtig an. Wie 1954. Herberger, der Fuchs. Willmann, der Dachs. Blutdoping mit Raki. Das Wunder von Famagusta. Und, Zack, Hastenichgesehen, ist man Weltmeister oder hat zumindest der Writers’ Cup gewonnen oder eine Plastikblume geschossen.

Der Nachteil: die vielen Spiele (siehe erneut Tag -1; man beachte die kunstvoll aufeinander aufbauende Dramaturgie dieses Chronicals; Ang. des Aut.). Entsprechend war der ursprüngliche Plan des Chronisten, sich still in einer Drohnenmadenposition wie der Innenverteidigung, als Field-Reporter oder gleich auf der Ersatzbank einzunisten und dort quasi zu verpuppen, um eine möglichst ruhige Kugel zu schieben. Einfach nur langsamer zu laufen, geht ja leider gar nicht mehr. Da bliebe ich ja stehen.

Nun aber ist an Autorenfußballern das Besondere im Vergleich zu allen andern Fußballspielern, dass erstere nicht nur das Spiel besser schreiben als lesen können, sondern auch, dass sie schon vor dem Spiel verletzt sind. Hochsensible Feinmechanik in Geist und Knochen, wie sie unter den Menschen sonst ohne Beispiel ist, macht sie nun mal hochempfindlich. Plötzlich sind wir zu wenige. Aus 32 Kampfmaschinen sind plötzlich 23 halbwegs Gesunde plus ein paar Brösel geworden. Mein kluger Plan ist gefickt. Jeder muss gleichzeitig auf mehreren Positionen in mehreren Teams spielen. Andere Mannschaften haben gleich ganz abgesagt, so wie Südzypern, die wohl immer noch wegen irgendeiner Sache von vor fünfzig Jahren beleidigt sind. Leute, kommt doch mal runter, möchte man sagen, ist doch nur Fußball. Allerdings, um der Wahrheit hier ausnahmsweise die Ehre zu geben, ist es uns zunächst (siehe Tag 5) nicht gelungen, eine offizielle und klare Begründung belegbar festzunageln.

Und so wird nachher noch beraten. Auf einmal ist quasi alles möglich: sechs oder sieben Mannschaften statt acht. Gruppen zu je dreieinhalb oder zweidreiviertel Mannschaften. Gemischte Teams aus Global Playern, die von der wohl übervollen nordzypriotischen Uni-Mannschaft wahlweise, abwechselnd oder im Quadrat alternierend aufgefüllt oder bis zum Rand abgefüllt werden. Schafe oder betrunkene Touristen als Platzhalter für die Doppelsechs. Wir werden sehen und von der Entscheidung bei Gelegenheit berichten. Vielleicht.

Tag 2

Diese All-Inclusive-Regelung wird uns noch manch harte Nuss zu knacken geben. Sind ja schließlich schon ein paar formidable Saufnasen in unserem Verein. Wobei wir keine Namen nennen wollen, denn bei jedem, der mit dem Finger auf andere zeigt, weisen stets drei Finger derselben Hand auf ihn selbst zurück. Dass sämtliche Schriftsteller haltlose Trinker seien, ist freilich so wenig wahr, wie es bei Russen stimmt. Im Gegenteil experimentiert speziell die jüngere Generation mit wunderlichen Enthaltsamkeitsritualen, die einem aufrechten Erwachsenen manchmal recht strange erscheinen. Herr Willmann musste am ersten Abend Herrn Afanasjew sogar strengstens ermahnen, wenigstens ein Bier mehr zu trinken, um das Trainingsprogramm mit der angemessenen Ernsthaftigkeit zu absolvieren.

Hat aber nichts geholfen. Denn der ersten Mannschaft, Autonama I, dem „German Writers’ Team“ steckte obendrein die harte Eröffnungsfeier in den Knochen. So ging das erste Spiel gegen die Ungarn ging nach heldenhaftem Kampf verloren und Autonama II, das sogenannte „German Martial Arts Team“, wird heute Abend gegen England verlieren, wenn nicht ein weiteres „Wunder von Famagusta“ (siehe Tag 1) geschieht. Ja, das Turnier hat heute angefangen und es gibt sogar einen Modus. Doch damit hören wir auch schon wieder auf. Fußball interessiert keinen – das haben unzählige Umfragen ergeben.

Viel wichtiger ist die Kunst. So wusste beim Frühstück Herr Böttcher in etwa sinngemäß zu berichten, dass Joachim Sartorius in „Mein Zypern“ den Wunsch äußerte, die mittelalterlichen Ritter von Nicosia mögen doch bitte (lütfen!) ihre Kettenhemden lüften, um ihre Glieder (siehe Tag 5) in die Schöße der Kurtisanen (siehe Tag -1) zu betten. Woraufhin von rechts oder vorn ein hysterisches Hüsteln zu vernehmen war: ein Kollege hatte wohl zeit seines bisherigen Lebens Kurtisanen für eine Form getrockneter Trauben gehalten und war nunmehr arg ins Schleudern geraten, der Gesamtbotschaft wenigstens noch ein Restchen Sinn zu entlocken. Was, nebenbei gesagt, auch für jeden einzelnen Satz seines eigenen Schaffens gilt, das im Wesentlichen aus Lyrik besteht, die er aus einzeln herausgeschnittenen und dann neu zusammengefügten Buchstaben aus Staubsaugergebrauchsanweisungen bildet. Also ähnlich wie ein Erpresserbrief. Bloß noch viel schlimmer. Aber das ist vielleicht Geschmackssache.

Tag 3

Schon nach wenigen Tagen hier haben ein paar Eigenheiten unserer Unterkunft Legendenstatus erlangt. In dieser Beziehung unerreicht sind „Die singenden Steine auf dem Weg zum Asi-Block.“ Bevor wir zu den singenden Steinen kommen, vorbereitend erst noch eine Klärung des Begriffs „Asi- Block“, bzw. „Asi-Bunker“ (Herr Merkel) oder auch „Ostblock“ (Herr Hennig). Hierbei handelt es sich um das berüchtigte Haus 3 des Salamis Conti Beach Etcetera Dingens, in dem nur die Härtesten der Harten untergebracht sind (Herr Luthardt, Herr Hannemann, Herr Schmidt, Herr Kron u.a.). Ein guter Vergleich ist sicher das Hau­s I der JVA Tegel. Der Asi-Bunker liegt ein Stück hinter dem Haupthaus der Anlage, weg vom Strand, und an dem Weg dahin stehen eben besagte singende Steine.

Sie singen den ganzen Tag und die halbe Nacht. Ununterbrochen. Meistens singen sie mit sonorer Stimme eher ruhige französische Chansons. Manchmal auch anderes Liedgut. Eher unpolitische Sachen – man will ja im Urlaub nicht ständig mit den Problemen der Welt konfrontiert werden.

Zunächst hatte man ja noch gedacht, es wären die direkt neben den Steinen stehenden Laternen, die sängen. Was aber natürlich vollkommener Blödsinn ist: Schließlich weiß jedes Kind, dass Lampen nicht singen können. Die singenden Steine jedenfalls haben etwas Verwunschenes an sich. Als wären sie vor langer Zeit verzaubert worden und sängen hier nun traurig vor sich hin. Ein Schicksal, von dem sie erst erlöst werden, wenn sie eines Tages von einer Steinmetzin (Steinmetze?) geküsst werden, woraufhin sie sich in was auch immer zurückverwandeln: ein Stück Holz oder Dachpappe vielleicht. Ein bisschen erinnern mich die grauen Burschen auch an Jabba the Hutt.

Und nun doch ausnahmsweise noch mal zum Fußball. Denn während die Übungsgruppe „German Writers“ überraschend ihr Spiel gegen die Zyprioten verlor, hat das „German Martial Arts Team“ mithilfe der „Schande von Famagusta“ die „Schmach von Cordoba“ getilgt und die österreichischen Autoren geschlagen. Die Tore erzielten Herr Schmidt und Herr Böttcher (Foulelfmeter). Herr Bauers Fähigkeit sich wie ein Presslufthammer in den Gegner zu schrauben und dabei auch noch umzufallen, war bei der Zusprache des Strafstoßes von nicht unbeträchtlichem Nutzen.

Neben dem Platz ist der Krankenwagen des Roten Halbmonds längst Dauergast. Konditionsschwache alte Säufer hecheln mit übertriebenem Ehrgeiz Ball und Gegner hinterher. Da bleiben Verletzungen nicht aus: Knochenbrüche, Bänderrisse, Schlaganfälle, Herzinfarkt. Manchmal auch schlicht Tod durch Altersschwäche, wenn die kleine Kusine Zufall derart am Rad dreht, dass dem Kandidaten die Stunde ausgerechnet während der sechzig Minuten Spielzeit schlägt Aber das kommt selten vor.

Übrigens täuschen die Bilder ja oft wahnsinnig. Unsere Sinne werden von unseren Sehkonventionen korrumpiert. Das Wetter ist immer noch herrlich. Das Essen ist gut. Die Leute sind freundlich. Viele Grüße, Deine Autonama

Tag 4

Beim Frühstück bitte ich Herrn Nußbaumeder, der dankenswerterweise die unangenehme aber wichtige Pflicht übernommen hat, die zentrale Mängelliste zu führen, mitaufzunehmen, dass das Besteck oft zu voreilig abgeräumt wird. Und dann muss man sich jedes Mal neues holen. Das kostet alles Zeit, die dann unserem Einsatz für die europäische Wertegemeinschaft sowie dem Dienst an den schönen Künsten verlorengeht.

Diesen Verlust versuchen wir gerade wieder gutzumachen, indem wir diese Zeilen am kreisrunden Pool niederlegen. So wird die Chronik selber wie eine Kirsche aus Klugheit in die Erholung des Chronisten eingebettet. Der nun im angenehm kühlen Wasser seine durch ein Übermaß an Fußballspielquatschkram verursachten rasenden und für wohl jeden anderen Menschen unerträglichen Muskelkörpergliederschmerzen, Knochen auch, ganz doll Knochen, Verspannungen von mindestens dreitausend Volt, Hochverspannungen, dieser Mann ist alt, erschießt ihn mit einem Bolzenschussgerät, dann könnt ihr noch vor dem Frühling Fort Laramie erreichen …

Äh, wo war ich stehengeblieben? Ach ja: In dem kreisrunden Pool kann man Runde für Runde drehen. Aber Pool ist offenbar für Pussys. Jedenfalls sehen die Urlauber auf ihren Liegen von außen dabei zu, Unglaube, Verachtung und leiser Ekel steht ihnen auf die Gesichter geschrieben, so als sei man nicht ganz gescheit. Und vielleicht ist man das ja auch nicht. Gescheit. Sondern eher gescheitert. Gescheitert wie ein Goldfisch im Glas, immer im Kreis herum schwimmend, kein Ausweg, kein Entkommen, ohne Lire und ohne Papiere.

Doch wer sind wir, uns hochmütig und über Wert als Goldfische anzupreisen. Das sollen die Edelfedern unter uns machen, die für Welt und FAZ, für Spiegel und Zeit Online sowie Fix & Foxi schreiben. Vogelsang. Willmann. Eilenberger. Jesus. Rembrandt. Netzer. Wir andern sind bloß Silberfische, bestenfalls, Messingfische eher, wenn wir nicht aufpassen und uns besinnen, Fische aus Scheiße gar, Scheißfische, das Leben ist oft nicht leicht und die Wahrheit unbequem.

Seit Herr Nußbaumeder sich im Ge(h)bein verletzt hat und nicht mehr mitspielen kann, führt er die Mängelliste noch schärfer und voller Ingrimm, die seine stille Verbitterung ob seiner unbefriedigenden sportlichen Situation widerspiegelt. So singt zurzeit einer der „Singenden Steine auf dem Weg zum Asi-Block“ (siehe Tag 3) nur noch mit halber Kraft, was einen eigenen zweiseitigen Sonderbericht mit Durchschlag zur Folge hat. Vor seiner Verwundung hätte er es vermutlich bei einer einfachen Rüge belassen.

Mittlerweile fügten die „German Writers“ den Österreichern zwar nach der „Schande von Famagusta“ (siehe Tag 3) noch die „Klatsche von Famagusta“ (5:0) zu, doch gaben dabei nach Herrn Nußbaumeder nun auch Herr Hulpe halb und Herr Witte ganz den Gesundheitslöffel ab, so dass die „Writers“, wie sie sich in einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Kürzungswut gern selbst nennen, durch Reste der eigentlich nur noch am Pool liegenden „German Martial Arts“-Mannschaft ergänzt werden müssen. So geht dann auch das heutige Halbfinale gegen die nordzypriotische Uni-Mannschaft (der Veranstalter) 2:4 verloren. Sorry übrigens wegen der Schreibfehler und des schwachsinnigen Inhalts (siehe Tag -1 – 4) , aber die Sonne scheint hier dermaßen auf den Bildschirm, dass alles an dieser Stelle Entstehende sowieso dem reinen Zufall geschuldet ist.

Und wo wir schon bei den eher doofen Sachen, also noch abseits der Mängelliste sind: Diese Grenze hier mitten durch die Stadt ist ja auch irgendwie voll daneben. Leider darf man sie und die dahinterliegende verlassene Geisterstadt nicht fotografieren, deshalb haben wir sie mit Lego- und Playmobilelementen nachgebaut und dann mit einer Spezialkamera abgelichtet. Sieht täuschend echt aus, nicht?

Tag 5

Der Morgen des Abflugs ist gekommen, der Abschied ist da. Noch ein letztes Mal den Weg der Singenden Steine vom Asi-Bunker zum Frühstückssaal. Sie singen zum Abschied leise Servus. Tränen sind das Salz in der Suppe des Tschüss-und-weg.

So weit es der Kopfnebel des vorabendlichen Bingens zulässt, das einem der frühe Zapfhahnstreich um Mitternacht aufzwingt, lasse ich den gestrigen Nachmittag und Abend noch einmal Revue passieren. Die Bade-, Bier- und Raki-Orgie der jungen Menschen direkt nach dem verlorenen Halbfinale. Die nachfolgenden unbeschreiblichen Exzesse, die ein Hunnenheer dagegen wirken lässt wie ein Schwarm frisch geschlüpfter Marienkäfer im Sandkasten des Marienkäferkindergartens. Hiermit leiste ich öffentlich Abbitte dafür, dass ich besagte junge Menschen an Tag 2 (siehe dort) noch der betschwestrigen Häschenhaftigkeit zieh. Wahrscheinlich hatten sie einfach nur fit sein wollen, alldieweil der Chronist in der Pause des Österreichspiels um ein Haar übersäuert auf den Rasen göbelte. Vernünftig.

Aus schmalen Lippen unter weißen Nasen in blassen Gesichtern wispert es um mich herum am Frühstückstisch, „Ein Glück, dass Döring das nicht mehr erleben musste“, „Hätte Döring das gesehen, so wäre er gewiss vor Gram gestorben“ und auch der leicht fragwürdige Klassiker: „Unter Döring hätte es das nicht gegeben.“

Im Bus zum Flughafen bricht ein entsetzlicher Streit darüber aus, ob es „in Zypern“ oder „auf Zypern“ heißt, schließlich wälzen sich alle kreischend, kratzend und Haare ausreißend im Mittelgang. Es gibt keinen Sieger. Nachdem wieder Ruhe einkehrt ist, sage ich laut: „Pimmel“. Im Bus. Einfach so. Laut und klar. Ich lausche dem Nachhall meiner Worte und bin froh, dass ich mich das endlich mal getraut habe. Das tut so gut. Ein zuvor nie gekanntes und auch nicht für möglich gehaltenes Glücksgefühl durchströmt meinen Körper wie Frischluft.

Irgendwann, gar nicht mal so viel später, befinden wir uns in der Luft. Die Reiseflughöhe haben wir noch längst nicht erreicht und fliegen aufs Meer zu, als wir beim Blick aus dem Fenster an einem Berghang das Mosaik einer riesigen Flagge der türkischen Republik Nordzypern erkennen, der Halbmond wie ein Stempel des neuen Besitzers aufs alte Land. Man kann das nur vom Flugzeug aus erkennen, nur zu diesem Zweck haben die das gebaut, denn hier verläuft der Luftkorridor, kurz bevor man die zypriotische Landmasse (wenn man das Landmasse nennen kann, würde ich konsequenterweise sagen: IN Zypern) verlässt.

Das ist doch von der Kategorie Schwanzvergleich. Es ist so jammerschade, denn mit einem – ich freue mich das Wort hier noch mal sagen zu dürfen, herrlich, das ist ja sooo befreiend – PIMMEL kann man so schöne und nützliche Dinge machen (da bin ich ja selber immer noch pausenlos am Experimentieren), aber doch bitte keine Politik! Und natürlich gilt das auch in diesem Fall für beide Seiten, schließlich haben – so viel steht inzwischen fest – die Südzyprioten unter politischem Druck ihre Zusage zurückgezogen, zu diesem Turnier, das immerhin unter dem Motto „Football without Borders“ stand. Vielleicht wäre es grundsätzlich besser, sämtliche neugeborenen Knaben zu kastrieren.

„Zu viel Karen Duve gelesen“, wird jetzt wieder jemand höhnen. Ist mir egal. Mir fehlt ja so was von jedes Verständnis für solche Sandkastennummern, solange es um das Leben und die Zukunft von Menschen geht.

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Alle Infos zu "Fußball ist unser Lieben", hrsg. von Albert Ostermaier, Norbert Kron und Klaus Caesar Zehrer, Suhrkamp 2011, hier!


Alle Infos zu Titelkampf, hrsg. von Albert Ostermaier, Moritz Rinke und Ralf Bönt, Suhrkamp 2008, gibt es hier!

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