England. Ein Sommermärchen.

Neue Taktik: tunneln, dann kick and rush

Erst tunneln, dann kick and rush. © Daniel Siemens

Im Frühjahr 1827 reiste der junge Düsseldorfer Dichter Heinrich Heine nach London. Das Jurastudium in Göttingen war beendet und ein erster Bestseller, die “Harzreise”, erschienen – der Bericht eines Paradieses auf Erden voller “Blattgesträuche”, “Schaumgewänder” und “Busenbänder”. Jetzt wollte er das Land seiner Vorbilder, Lord Byron und William Shakespeare, kennen lernen und schöpfen, woraus sie schöpften. Aber was er bei seiner Ankunft vorfand, war nichts als ein “steinerner Wald von Häusern”, der ihn dazu veranlasste, vor Reisen, insbesondere junger deutscher Autoren, in die britischen Hauptstadt zu warnen:

Schickt keinen Poeten nach London! Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutschen Poeten hinschicken, einen Träumer, (…) dann geht es ihm erst recht schlimm, und er wird von allen Seiten fortgeschoben oder gar mit einem milden God damn! niedergestoßen. God damn! das verdammte Stoßen!” Jahre vor Veröffentlichung seiner “Nachtgedanken” und des berühmten Versepos’ “Deutschland – ein Wintermärchen” war er, dachte er an England, um den Schlaf gebracht.

Inzwischen sind es die Engländer, die um den Schlaf gebracht sind, denken sie an Deutschland. Erst erschütterten die verdammten Stöße deutscher Bomben (”Don’t mention the war!”) die Insel, dann die deutscher Beats einiger – wie Heine – aus Düsseldorf stammender Musikarbeiter, die sich selbst als perfekte Symbiose von Mensch und Maschine verstanden und Roboter auf die Bühne schickten, anstatt selbst in Erscheinung zu treten.

Spätestens mit dem Ausscheiden der Englischen Fußballnational-mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1990 hat sich das Image Deutschlands als einer Nation von Cyborgs gefestigt. Nach dem verlorenen Elfmeterschießen im Halbfinale in Italien gab der stets stürmende und drängende Aphoristiker Gary Winston Lineker eine neue Definition für Fußball aus, die, von wenigen, aber Turnier entscheidenden Ausnahmen abgesehen, noch heute Bestand hat: “Football is a simple game: 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans win.”

Die Kunst und ihr Publikum. Foto: DSL

Die Kunst und ihr Publikum. © DSL

Wir ließen unsere schlechten Imitationen im Schrank, schlugen Heines Warnung in den Wind, erinnerten uns stattdessen an das Filmepos “Deutschland – ein Sommermärchen” unseres Mitspielers Sönke Wortmann und flogen auf Einladung der Deutschen Schule London in die britische Hauptstadt. Zwei Tage und Nächte an der Themse, einquartiert bei deutschen Gasteltern und philosophisch bestärkt von den Aphorismen Wolfram Eilenbergers beschwörten einen neuen Geist herauf, den Geist von Richmond: lange und für alle Seiten erhellende Gespräche mit Eltern und Schülern, mehrere, parallel ablaufende Lesungen in den Klassen, viele Pimm’s und Pints und ein kampfbetontes Spiel (2:2) gegen eine Auswahl von Lehrern und Botschaftsmitarbeitern auf der Wellenwiese hinter der Turnhalle.

Das alles sollte sich als die richtige Vorbereitung auf das am Samstag angesetzte Länderspiel gegen die englischen Autoren erweisen. Die Sonne schien. Der Wind wehte. Vorne wurde in weißen Anzügen Cricket gespielt. Cricket! Wir waren auf das Schlimmste gefasst. Nach dem 6:1 in Tel Aviv 2008 erwarteten wir, auf heimischem Kunstrasen “von allen Seiten fortgeschoben” und “niedergestoßen” zu werden. Heines “God damn!” hallte auch mehrmals über den Sportsground der University of Westminster. Vor allem nach den schnellen Treffern von Thomas Klupp (3. Minute) und Moritz Rinke (8. Minute).

Die entscheidende Szene: Merkel schiebt Brandt den Ball zu

Entscheidende Szene: Merkel auf Brandt © Zehrer

Danach glaubten die Engländer, das Spiel durch Parolen wie “red ball!” und “pin him!” drehen zu können. Aber diese self-fulfilling prophecies wollten sich einfach nicht von selbst erfüllen. Weder gelang es ihnen, den Ball zu kontrollieren, noch uns an irgendeiner Stelle des Feldes festzunageln. Ein ums andere Mal vollführten wir menschliche, allzumenschliche Bewegungen. Wir stemmten uns gegen ihre Körper, errangen durch gewagte Sprünge den Ball und schlugen lange, präzise Pässe. Einen davon auf Konstantin Richter, der per Fallrückzieher zum 3:0 traf (29. Minute), einen auf Florian Merkel, der auf 4:0 erhöhte (65. Minute), und viele weitere, die uns aber – wie in England nicht anders zu erwarten (s. Wembleytor) – vom Linienrichter aberkannt wurden.

In der Nachspielzeit im Cafe OTO in Dalston schafften die Reds dann allerdings doch noch den Ausgleich. Zumindest symbolisch. Der Oxforder Mathematikprofessor Marcus Francis Peter du Sautoy (Abwehr) erklärte die Bedeutung von Primzahlen für den Fußball. Philip Oltermann (Mittelfeld) moderierte mit glühender Stirn. Patrick Neate (Sturm) slamte, was das Zeug hielt. Und Graham Joyce zeigte, wie einfaches Torhüten spektakulär aussieht.

Dem konnten wir nicht viel entgegen setzen. Außer Thomas Klupps in bester bayrischer Mundart vorgetragenes “SCHPERMARADOS – seir Colts are always loaded, and sey won’t miss a singel schott”, Uli Hannemanns “purple penis“, Florian Werners “suicidal cows” und unseren von nichts erschütterbaren Buddhisten auf der Außenbahn, Klaus Cäsar Zehrer, indem er auf Deutsch einen Witz erzählte, der auf Englisch keinen Sinn macht: “Warum bleibt in der britischen Hauptstadt der Schnee nicht liegen? Weil sie einen Tauer hat.” Also, wer und wo immer ihr seid: Schickt bitte mehr Poeten nach London!

Termine



Alle Infos zu "Fußball ist unser Lieben", hrsg. von Albert Ostermaier, Norbert Kron und Klaus Caesar Zehrer, Suhrkamp 2011, hier!


Alle Infos zu Titelkampf, hrsg. von Albert Ostermaier, Moritz Rinke und Ralf Bönt, Suhrkamp 2008, gibt es hier!

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