Stamboul Doubles
Der Taksim-Platz liegt auf einem vorgeschobenen Hügel der Altstadt von Istanbul zwischen Bosporus und Goldenem Horn. Man erreicht ihn auf dem Tarlabasi-Boulevard Richtung Norden, auf dem man in einem endlosen Strom hupender Kleinwagen mehr fortgeschwemmt wird, als dass man fährt. Das verkehrstechnische Herz des Stadtteils Beyoglu steht immer kurz vor dem Kammerflimmern. Zu Beginn der Reise nicke ich im Bus kurz ein und bin beim Aufwachen ziemlich überzeugt, dass es einen identischen Taksim-Platz gleich neben dem auf der Karte geben muss. Wir passieren nämlich die unzähligen Tauben und Halbmondflaggen vor dem Atatürk Kültür Merkezi schon mindestens zum zweiten Mal, drehen noch eine Runde am Heldendenkmal vorbei und stehen wieder eingezwängt zwischen den Taxis vor der U-Bahn — natürlich ein Ergebnis der erstaunlichen geographischen Unbedarftheit unseres Busfahrers, aber auch sonst hält Istanbul ja fast alles in doppelter Ausführung bereit. Dies ist die Stadt der Kopien. Von den gefälschten Adidas-Schuhen, die man in den Unterführungen für 10 Euro kaufen kann, bis zur Sultan-Ahmed-Moschee, die man, den Touristenandrang bereits im 16. Jahrhundert vorhersehend als nahezu identische Doublierung der Hagia Sophia direkt neben ihr vorfindet. Die ganze Bevölkerung dieser Stadt hat sich innerhalb von 15 Jahren einfach selbst kopiert und ist von 8 auf auf geschätzte 16 Millionen angewachsen. So scheint es nur recht und billig, wenn in Istanbul an diesem Wochenende zwei deutsche Nationen gegen die Türkei spielen: während Löws Kader die EM-Qualifikation locker auslaufen lässt, absolvieren deutsche Autoren ein beinhartes Freundschaftsspiel gegen die “Ayazma”, das türkische Autorenteam.
Sportlich schneiden die Profikollegen dank ihrer Freund und Feind ennervierenden jugendlichen Streberform wieder einmal besser ab. Man weiß aber nicht, ob Schürrles Sprints und Schweinsteigers Pässe eigentlich noch dieselbe Schnittigkeit besäßen, wenn die genannten Herren vor dem Spiel unseren Flugplänen und dem allfälligen Beiprogramm ausgesetzt wären. Bucht Bierhoff die Abflugzeiten in Frankfurt etwa genau in Poldis Tiefschlafphase? Laden die Gebrüder Altintop denn den gesamten Deutschen Kader am Vorabend des Spiels zu Unmengen Fisch und Raki ein? Kann Gomez noch die „Tormaschine anwerfen“ (Löw), wenn er nach schwerem Schafskäsefrühstück bei Dreißig Grad türkischer Mittagshitze aufläuft? Gomez wie gesagt, nicht Klose. Es ist an der Zeit, über ein eigenes FIFA-Wertungssystem für den Autorenfußball nachzudenken. Man könnte etwa nach einem von Joseph Blatter und seinen Freunden beim internationalen PEN zu ratifizierenden Schlüssel, der als Klaus-Cäsar-Zehrer-Skala sicher Sportgeschichte schriebe, die erzielten Tore eines Spiels mit der Anzahl der in den 24 Stunden zuvor mannschaftsgesamt eingenommenen geistigen Getränke verrechnen. Das Ergebnis verrechnet man mit den im selben Zeitraum aufgenommenen Kalorien und der bei Anpfiff einen Meter über Platzhöhe gemessenen Temperatur. Und kommt so zu viel interessanteren Ergebnissen, als einem schnöden 2:3, wie es uns die Türken heuer abgerungen haben. Mit der Zehrer-Skala, da lege ich mich sorglos fest, wäre Deutschland auf Jahre hinaus unschlagbar.
Aber der Reihe nach. Vor dem Spiel gerät Coach Döring wegen des Taksim-Verdopplungsrituals unseres Busfahrers in Zeitnot und vermeldet die Aufstellung butterfahrtmäßig über das Bordmikro im Bus. Dabei präsentiert er fast unbemerkt eine kleine taktische Revolution: Das Ende der Viererkette in einer deutschen Nationalmannschaft. Zwei Außenverteidiger, ein Staubsauger davor, ein Schieke zur Absicherung, das soll uns von nun an reichen. Angekommen machen wir uns auf einem erstaunlich tiefen Kunstrasenplatz warm, der jede Art von Besohlung locker zu nivellieren scheint: Meine von Berliner Kunstrasenbeton abgeschliffenen Semi-Nocken, Nußbaumeders vor Spielbeginn liebevoll polierte Stollen und sogar die galataturmhohen Absätze jener anwesenden Kulturjournalistinnen, die sich modisch zur Feier des Tages an italienischen Sportmoderatorinnen orientieren.
Um der Istanbuler Massenkultur gerecht zu werden, haben wir noch eine zusätzliche Mannschaft mitgebracht, die intern recht mitleidlos als “B-Team” apostrophiert wird. Ihr Gegner im ersten Spiel verteilt vor Beginn T-Shirts, die Freiheit für die inhaftierten Autoren Ahmet Sik und Nedim Sener fordern — beide sitzen für ihre Berichterstattung über die Ergenikon-Putschisten des türkischen Militärs in Untersuchungshaft. Gegen diesen schon vor Anpfiff Sympathie heischenden Gegner zeigen die B-Jungs eine „disziplinierte und couragierte Leistung“ (Coach Döring im Diplomatiemodus), erweisen sich aber letztlich nur als Sparringspartner. Vielleicht ein wenig bangigkeitsschlapp, ein wenig gelähmt durch ihren offiziellen Status als zweite Garde. Man müsste also wie der mitfühlende Döring Umschreibungen für den Umstand finden, dass in der ersten Halbzeit kaum eine und in der zweiten Halbzeit kaum eine weitere deutsche Torraumszene kreiert wurde. Eventuell aber auch nicht: Wir waren in 60 Minuten Spielzeit kaum mal vorne und haben wenn dann nix gerissen. Zu den sportlich beschwingteren Momenten zählt in den Annalen etwa der Ausflug von Werner in der 58. Minute, der knapp hinter der Strafraumgrenze endet. Werner, das muss man dazu sagen, ist gelernter Verteidiger und dreht sich also solcher mit Ball reflexhaft weg vom Tor. (Gegendarstellung Werner: “Ich habe mich keineswegs weggedreht, es war eher so, dass ich entkräftet zusammengebrochen bin und mein Bein im Stürzen unkontrolliert gegen den Ball gezuckt hat, so wie Hühner ja auch noch rennen, nachdem man ihnen den Kopf abgehackt hat. Außerdem eierte der Ball, als ich wieder zu Bewusstsein kam, ziemlich genau in rechtem Winkel zum gedachten Torschuss in Richtung Seitenaus, von Wegdrehen kann also wirklich keine Rede sein.”)
Zur Angriffsmisere der B-Probe trägt auch ein im Verlauf des Spiels offensichtlich werdendes Fingerspitzengefühl des Gegners bei Auswahl und Instruierung des Schiedsrichtergespanns bei. Die Abseitslinie wird hier irgendwie chaostheoretisch interpretiert — jedenfalls scheint der einzige deutsche Spieler, der nicht schon beim Abschlag zurückgepfiffen wird, Torwart Merkel selbst zu sein. In einigen sich daran anknüpfenden Diskussionen mit den uns fröhlich auslachenden Referees offenbart das Spiel vielleicht noch jenen Unterhaltungswert, den es auf sportlicher Ebene vermissen lässt (einen Eindruck von meinen inneren Monologen während so mancher Szene gewinnt man hier.) Unterhaltsam auf eine eher fußballferne Weise dann auch das 0:1 aus unserer Sicht: Langer Ball aus dem türkischen Mittelfeld in den deutschen Strafraum, mein Innenverteidigungspartner Kuper ruft beruhigend „Hab ich!“, geht zwei Schritte vor, springt hoch, taucht entgegen seiner Vorhersage etwa anderthalb Meter unter dem Spielgerät hindurch, korrigiert sich noch gewissenhaft, fast schon im Sinkflug befindlich „Hab ich nicht!”. Für Information und Ball dankt ein zunächst überrascht, dann aber ziemlich kaltschnäuzig agierender türkischer Mittelstürmer. Und während Merkel sich zum ersten Mal an diesem Tag brüllend im Granulat wälzt, überlege ich, ob es eigentlich statthaft ist, als Innenverteidiger bei Gegentoren loszulachen. Das Spiel endet schließlich 0:2, was gegen einen wenig besseren Gegner kaum, gegen seine unterstützungswürdige Mission aber wohl ganz in Ordnung geht.
Während Team B die ersten Getränke und Wetten auf die Torschützen von Team A auslobt — Buchmacher Zehrer verzeichnet Straatmann schnell bei 2 : 1, Rinke bei 48 : 1 –, entwickelt sich zwischen Almanya und Ayazma ein „niveauvoller Kreisklassekick“ (Kuper). Schöne Tore hüben wie drüben, wobei die Niederlage absolut vermeidbar gewesen wäre. Da sind sich alle sicher. Wie eigentlich immer nach dem Spiel. Coach Döring: „Die erste Halbzeit spielten wir mit einem geschätzten Ballbesitz von 70% die Türken an die Wand, kombinierten sicher von hinten heraus und ließen die Türken laufen. Gerade das Spiel von hinten heraus mit mehrmaligen Seitenwechseln klappte sehr gut, so dass sich immer wieder Räume nach vorne auftaten. Einziges Manko: die Chancenverwertung.“ Nach der Halbzeit ist die Sache durch häufige Konzentrationsfehler unsererseits ein Glücksspiel, wobei die Führung der Türken im direkten Gegenzug egalisiert wird. Ein erneutes Tor zum 2:3 kurz vor Schluss kann unser letzter Versuch am gegnerischen Strafraum dann leider nicht mehr zurechtrücken: quasi mit Abpfiff schlägt Straatmann eine gefährliche Bogenlampe aufs Tor, aber der türkische Zwei-Meter-Tormann mit Gesichtsmaske und Zahnspange kratzt den Schuss aus dem Winkel. Dazu hüpft seine blonde Modelfreundin jubelnd am Spielfeldrand und Straatmann geht im Strafraum geschlagen in die Knie. Ich bin nach dieser Szene ein bisschen verliebt in alle drei.
Für die Niederlage setzt es am Tag darauf beim Empfang im deutschen Generalkonsulat den erwarteten Rüffel von DFB-Präsident Theo Zwanziger. Es fallen zwischen zusammengebissenen Zähnen die Adjektive “inakzeptabel und nicht hinnehmbar”, dazu werden Augenbrauen bis zur Unsichtbarkeit der Pupillen zusammengekniffen. Dabei ist dem ranghöchsten Fußballer Deutschlands zu diesem Zeitpunkt die Existenz eines Teams B und seiner noch schmachvolleren Niederlage gar nicht bekannt. Von dem weiß bei den anwesenden Offiziellen nur Wolfgang Niersbach, nach seiner wie von beruhigenden Pressekommuniqués umwölkten Stirn zu urteilen.
Im übrigen haben die Niederlagen auf die Mannschaft aber eine Art demokratisierende Wirkung, die man getrost auch mal mit der präzisen und lakonischen Euphemismenseligkeit Kathrin Müller-Lohensteins zusammenfassen kann: „Es gibt ja gar keinen A Kader und keinen B-Kader mehr, sondern nur noch A-Kader.“ (Sic! Zu Löw nach dem Belgien-Spiel am 11.10.2011 im ZDF). Wir absolvieren zum Double-A vereint ein von Mican extrem gut organisiertes Istanbulprogramm: Schullesungen, „Schön“ (Frank Willmann), eine Bosporus-Bootstour, „Schön“ (Chris Deutschländer), ein Hamham-Besuch, „Och ja“ (Jochen Schmidt). Wir besuchen das Spiel Deutschland – Türkei im Galatasaray-Stadion und ein Popkonzert von Türkeistürmer Harun Tekin, der – fast unnötig, das zu erwähnen – den Altintopzwillingen auf frappierende Weise wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Während der Taksim-Platz in Wiederholungsschleife vorbeizieht, werden die Diskussionen kleinteiliger und letzte Fragen im Überschneidungsbereich von Literatur und Sport geklärt: Wer kannte den diesjährigen Literaturnobelpreisträger vor der Verleihung? (Schieke). Hat Ottmar Hitzfelds Co-Trainer jemals ein türkisches Profi-Team trainiert? (Nein).
Der Satz “We are a German writer’s team playing football in Istanbul!” erweist sich nicht gerade als Zauberformel bei den Istanbuler Türstehern. Und das obwohl Zehrer beim Einlass immer signalrot die Autonama-Trainingsjacke aufträgt. Wir versuchen trotzdem, am ausschweifenden Nachtleben teilzunehmen und perfektionieren tagsüber die Kunst des Powernaps zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Am Sonntag sind wir dann nur noch das, was Jörg Fauser in frühem Beat-Pathos über die dunklen Gestalten der frühmorgendlichen Pide-Stuben Istanbuls schreibt: „Männer, die wieder eine Nacht überlebt haben.“ Und das Istanbul Fausers ist schon zuvor ganz kurz wieder da: kurz vor Sonnenaufgang werde ich im Club von einem Typen mit blau getönter Pilotenbrille angesprochen, der mir in skandinavisch gefärbtem Englisch zwei Aspirin als Ecstasy für 50 Lira anbietet. Kurz überlege ich, ob ich das nicht machen soll. Nur um diese zarte Reprise jener Szenen aus “Rohstoff” nicht zu stören, in denen Fauser „blonde, braungebrannte und immer gut gelaunte Jungs und Mädchen auf Europa-Trip“ im Frühjahr ‘68 systematisch mit vorgeblichen Opiumdeals um ihre Devisen bringt. Aber auch ohne den Geschäftsabschluss aus Popliteratur-Nostalgie bleibt Istanbul meine Lieblingskopie einer Stadt. Auf Wiederholung drängt hier vieles und so auch wir so bald wie möglich.
S.R.