28.05.2010: Lillehammer, Norsk Lit.festival, Norwegen – Autonama 2:3 (2:1)

Aufstellungen:

Norwegen:
Gunstein Bakke, Thomas Marco Blatt, Eivind H. Evjemo, Joachim Førsund, Eirik Ingebrigtsen, Karl Ove Knausgård, Johan Mjønes, Bjarte Samuelsen, Aksel Selmer, Brynjulf Jung Tjønn, Oddmund Vaagsholm, Stig Aasvik

Autonama:
Merkel – Hennig, Schieke, Nußbaumeder, Hannemann – Mican, Kröchert, Schmidt, Klupp, Zehrer – Rinke; Kuper, Luthardt, Döring
Coach: Böttcher

0:1 Rinke (10.), 1:1 Tjønn (12.), 2:1 Vaagsholm (21.), 2:2 Rinke (82.), 2:3 Döring (84.)

Spielbericht von Jan Böttcher

Wir fahren von Oslo durchs Gudbrandstal, in dem sich schon Peer Gynt rumgetrieben hat, doch die Landschaft bleibt wesenlos. Kein noch so konzentrierter Blick durch die Zugfensterscheibe kann die Trolle und Dämonen provozieren. Man ist gezwungen, sie für Schnickschnack zu halten, der vom Nordlicht befördert über Jahrhunderte in die skandinavischen Schädeldecken eingesickert ist. Die Autonama ist aber nicht gekommen, um den Norwegern ihre Ansichten auszutreiben, wir wollen nur unseren gerade errungenen Europameisterruf verteidigen.
Auch Lillehammer liegt noch in diesem magischen Tal, vom Bahnhof ab geht es nur noch bergan. Wir tragen die grünen Armbändchen des Norwegischen Literaturfestivals und kaufen im ersten Sportladen einen Ball, nur weil die Sonne scheint. Wir wissen noch nicht, dass sie uns bis in die Nacht leuchten wird. Wir stellen die Taschen in drei karminroten Holzhäusern ab und drehen uns um die eigene Achse, sehen uns umgeben von Berghöhen, da stehen gar die beiden Schanzen, auf denen vor sechzehn Jahren olympisches Gold ausgesprungen wurde.

Der olympische Wettkampf liegt wie eine Folie unter unserem Fußballspiel des nächsten Tages. Ich bin noch morgens an der Schanze und verstehe die Zeichen. Der einheimische Volksheld Espen Bredesen hat im ersten Durchgang mit 135,5 Metern Schanzenrekord vorgelegt. Jens Weißflog, als ungeliebter Olympiasieger von Sarajevo angereist, fliegt sechs Meter kürzer – und dreht das Ding, steht am Ende nach dem zweiten Sprung doch ganz oben auf dem Treppchen. Sein Name ist es, der in die Schieferplatte am Fuße der Schanzen eingraviert wurde. Darunter steht der Name Tyskland, denn auch als Mannschaft triumphierten in Lillehammer 1994 die Deutschen. Ich denke an das nachmittägliche Spiel. Vergesst die Trolle und Elfen. Wir spielen mit dem Geist von Lillehammer. Im Olympiamuseum des Ortes lese ich: Auch der Mannschaftssieg gelang erst mit dem allerletzten Sprung.

Freitag, 16 Uhr. Die Norweger versuchen einiges, um uns von unserem Weg abzubringen. Zuerst fehlt der Kabinenschlüssel, dann sogar die Linienrichter. Dafür ist mit Hallvar Djupvik ein bekannter Tenor da, doch die deutsche Nationalhymne stimmt er an, als wir uns noch aufwärmen und bevor sich irgendwer auf die Schwere der folgenden Stunde besinnen kann. Erst als die norwegische Hymne intoniert wird, stehen alle Spieler in einer Reihe. Jetzt singen die 70 Zuschauer mit, wollen uns einschüchtern. Der Stadionsprecher grüßt uns mit der witzigen Standarddefinition für Fußball: „11 gegen 11, und am Ende gewinnen die Deutschen.“ Der Witz schlägt später aufs Grausamste zurück.
Ich hatte zuletzt auf Jugendfußballturnieren gegen Norweger gespielt und mir nur noch gemerkt, dass sie mit ihrem eigenen Körper recht kompromisslos umgingen. Ein Fakt, den sie in den folgenden zwei Tagen auch beim traditionellen Dreikampf unter Beweis stellten: Vorspiel – Kneipe – Nachglühen. Man betrinkt sich privat, bis man meint, unter Gleichgesinnten in der Kneipe keine allzu tiefsinnigen Gespräche mehr führen zu müssen, trinkt dann, bis die letzte Kneipe Lillehammers zumacht und verlagert das Trinken schließlich mit immerhin noch fünfundzwanzig Leuten in ein teures Hotelzimmer, um dort zu nächtlicher Tuba und Heldengesang des hymnischen Fußballtenors die Tapeten von den Wänden zu kratzen und sich den Abschuss zu verpassen.
Dies nur als Vorausgriff, der illustrieren soll, wie schonungslos die Wikinger auch auf dem grünen Felde mit sich und anderen Körpern umgehen. Man befindet sich ständig im Zweikampf, wird begrätscht, Ellbogen werden im Luftkampf ausgefahren, vor allem gegen Torwart Merkel, den die Norweger bei jeder hohen Flanke in den Fünfer mitsamt Ball über die Linie zu drücken versuchen. Stimmt, sie spielen ja auch gern in England Fußball, wenn sie gut genug sind. Der Schiedsrichter winkt alles durch. Wir fluchen, wundern uns, fluchen wieder.
Norwegen spielt aber nicht nur hart, sondern auch gut. Sie attackieren uns ständig mit fünf bis sechs Spielern. Und zwischen unserer frühen Führung durch einen Konter von Rinke (8.) zum 0:1 und einem weiteren Konter über Mican, der den Pfosten trifft (42.), kommen wir kaum zum Durchatmen. Folgerichtig fällt schon früh der Ausgleich durch Tjönn (14.) und setzt der athletische Spielertrainer Oddmund Fredrik Jacobsen Vaagsholm, vor nicht langer Zeit noch Rekordtorschütze in der zweiten norwegischen Liga, einen Fernschuss in die Maschen: 2:1 für die Herausforderer in der 26. Minute. Unsere fantastische Lesitung besteht allein darin, dass wir den Rest der Halbzeit schadlos überstehen.
Das Publikum belustigt sich mittlerweile darüber, dass wir so laut miteinander sprechen. Und würde Julia Franck, literarischer Ehrengast auf unserer Seite, noch auf das deutsche Team wetten? In der Pause, die wir nur allzu dringend brauchen, fehlt erneut der Kabinenschlüssel. Der Redebedarf ist groß. Eigentlich kommt aber nur raus, dass wir „mehr gegenhalten“ müssen und die lange Reise nicht angetreten haben wollen, um uns hier an die Wand drücken zu lassen. Wichtig wie eh und je: den Ball laufen lassen. Den Gegner dadurch auch.
Über die zweite Halbzeit wird es später viel zu philosophieren geben. Ist es unser Siegeswille, mit dem sich das Blatt wendet, oder schlackern den Norwegern wie einst Espen Bredesen im zweiten Durchgang die Knie? Die Schanze haben wir immer im Blick, sie thront geradezu über dem Fußballplatz. Und mit der Coolness von Weißflog spielen wir unser Ding jetzt runter. Kaum noch Fehlpässe, aber Chancen von Kröchert, der die Latte trifft, dann von Mican und Nussbaumeder. Trotzdem sieht es Mitte der zweiten Halbzeit so aus, als würden wir uns mit einer ehrenwerten Niederlage zufrieden geben, während Vaagsholm sein Team mittlerweile komplett zu einem Inter Mailand des Amateursports umfunktioniert hat. Wir können nicht glauben, dass den Norwegern die Kraft fehlt, eher wohl die Erfahrung, sie haben sich selbst durch ihren Rückzug eingelullt, kommen jetzt kaum noch an den Ball, wollen es anscheinend auch nicht. Den längst fälligen Ausgleich schafft wiederum Rinke, mit einem 23-Meter-Freistoß, der zwar lange in der Luft ist, aber zu genau für den norwegischen Keeper im Winkel einschlägt (78.). Im Vorfeld haben wir uns bei Unentschieden auf ein Elfmeterschießen geeinigt, und die Norweger gehen kaputt an dem Gedanken, gegen Deutschland Elfmeter zu schießen. Sie geben das Spiel deshalb noch vorher aus der Hand. Klaus Döring wird nach einer kurzen Ecke nicht konsequent angegriffen und schaufelt den Ball wie schon jüngst gegen die Schweden im EM-Halbfinale mit dem Innenrist ins hintere Dreiangel. Ein vollkommenes Tor, weil vollkommen unhaltbar. 2:3 in der 84. Minute.
Das Publikum kann der Hektik auf dem Platz nicht mehr standhalten, es verstummt verängstigt. Vielleicht sieht es Dämonen. Die Norweger haben auf ihrem Festival schon gegen Schweden und England in den Vorjahren verloren, heute kommt es besonders bitter. Oh Fußball, du Spiel mit zwei Halbzeiten. Und während uns die Euphorie durch die Folgetage trägt und mit Leeeenas Sieg in Oslo ins Unermessliche steigt, versenken die Norweger ihren Geist in der Flasche. Wobei wir dabei nicht immer tatenlos zusehen. Dazu weiße Himmelssteifen über Lillehammer um zwei drei vier fünf Uhr nachts. Bevor wir abfahren, sind alle zur Schanze gepilgert.

Termine



Alle Infos zu "Fußball ist unser Lieben", hrsg. von Albert Ostermaier, Norbert Kron und Klaus Caesar Zehrer, Suhrkamp 2011, hier!


Alle Infos zu Titelkampf, hrsg. von Albert Ostermaier, Moritz Rinke und Ralf Bönt, Suhrkamp 2008, gibt es hier!

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